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Januar

NZZ.CH // 03.01.2019 // MARKUS ZIENER

Vor rund zweihundert Jahren mussten die Zisterziensermönche das Kloster Neuzelle in Brandenburg verlassen. Jetzt sind sie zurück – und finden sich in religiöser Diaspora wieder.

Zum Gruss nicken wir uns nur kurz zu. Es ist jetzt nicht die Zeit für mehr. Pater Kilian trägt eine Wollmütze und über seinem Habit eine wärmende Jacke. Es ist kalt an diesem Freitag in Neuzelle. Der Teich vor dem Kloster ist bereits zugefroren. Und es ist früh. 4 Uhr 52, um genau zu sein. In acht Minuten beginnen die Vigilien.

Über eine niedrige Holztür betreten wir die katholische Pfarrkirche St. Mariä Himmelfahrt. Auf einer Holzbank in einer Seitenkapelle sitzt Pater Simeon, in der Hand hält der Prior das Psalterium, das Stundenbuch, aus dem heute, wie an jedem Morgen, gebetet wird. Pater Kilian nimmt gegenüber Platz. Pater Aloysius und Pater Isaak jeweils neben ihnen. Um Punkt 5 Uhr wieder ein kurzes Nicken, diesmal von Pater Aloysius an den Prior, dann beginnen die Vigilien, die Nachtwache. Abwechselnd werden Psalmen in Latein gesungen, aus dem Korintherbrief wird gelesen. Die Männerstimmen, die den Raum erfüllen, sind klar und ohne Müdigkeit.

Klosterleben. Im Grunde nichts Besonderes. Doch hier, an diesem Ort, in diesen Zeiten, ist es das schon. 750 Jahre nach seiner Gründung und 201 Jahre nach seiner Aufhebung im Jahr 1817 gibt es seit diesem Jahr wieder Zisterziensermönche im Kloster Neuzelle. Neuzelle, ein 4000-Seelen-Ort am östlichen Rand Brandenburgs, in Blickweite zu Polen und vor allem: gelegen in tiefster religiöser Diaspora. Neuzelle selbst ist zwar eine katholische Insel in einer religiösen Wüste. Immerhin ein Viertel der Einwohner bekennt sich zum katholischen Glauben. Aber schon in den Nachbargemeinden sind es meist nur noch zwei oder bestenfalls vier Prozent.

So wenig Religion ist nirgends

Landesweit gehören sechzehn Prozent der Einwohner der evangelischen und rund drei Prozent der katholischen Kirche an. Mit diesen Zahlen liegt Brandenburg weit abgeschlagen auf dem letzten Platz unter den deutschen Bundesländern. So wenig Religion ist nirgends. Nach der Reformation und der relativ liberalen Religionsausübung im Königreich Preussen sorgten vierzig Jahre DDR dafür, dass in Brandenburg die Kirchen heute nahezu bedeutungslos sind. Wer als Mönch nach Brandenburg kommt, der sollte wissen, was ihn erwartet. Er muss einen festen Anker haben. Oder er muss Zisterzienser sein.

«Den Zisterziensern geht es nicht ums Missionieren», räumt Pater Kilian, Subprior und Ökonom des Klosters, mit dem Irrglauben auf, die Mönche wollten die gottlosen Brandenburger bekehren. «Unsere Sendung funktioniert anders herum: Wir bauen die Stabilität der Gemeinschaft auf – und das wirkt dann anziehend.» Oder wie es Pater Simeon ausdrückt: «Wir wollen einen Hinweis auf die Gegenwart Gottes geben. Und wenn wir den Menschen zum Fragezeichen werden, dann haben wir schon etwas bewirkt.»

Die Gemeinschaft bildet das Fundament der kleinen Gruppe von Mönchen, die aus dem Mutterkloster Stift Heiligenkreuz in Österreich nach Neuzelle gekommen ist. Doch wie formt man diese? «Durch die Treue im Gebet», sagt der 42-Jährige, «indem wir gemeinsam den Choral singen, und das als Ort der Einheit verstehen.» Und dies mehrfach am Tag: Nach den Vigilien am frühen Morgen folgen Laudes, Konventamt, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet. Jeder Tag, siebenmal die Woche, folgt einer klaren Struktur, die durch die Gebetszeiten vorgegeben ist. Um dies zu tun, um sich täglich auf die Suche nach Gott zu begeben, braucht es die klösterliche Lebensweise.

«Im Moment schöpfen wir aus der Substanz», sagt Pater Kilian, der weltlich Christian Müller heisst. Die anhaltende Aufmerksamkeit rund um die Wiederbelebung des Klosters lenkt ab, kostet Konzentration, bindet Kraft. 120 000 Menschen besuchen jährlich Neuzelle. Auf dem Stiftsplatz, direkt vor der Kirche, in der die Mönche beten, finden regelmässig Konzerte, Aufführungen oder Weihnachtsmärkte statt. Zuweilen zerschneidet laute Jahrmarktsmusik die Stille des Gebets.

Ein echtes Kloster soll das werden

Die Substanz ist die religiöse Grundierung, mit der die Mönche aus Österreich nach Neuzelle gekommen sind. Noch trägt sie. Doch ein Mitbruder, Pater Philemon, hat sich nach sechs Monaten auf den Rückweg gemacht. Was die Mönche nicht sein wollen: eine Touristenattraktion. Vor diesem Hintergrund haben sie einen Entschluss gefasst, den so mancher Bewohner von Neuzelle wahrscheinlich noch gar nicht verstanden haben dürfte. Die Mönche werden diesen Ort wieder verlassen, nicht heute und nicht morgen. Aber in ein paar Jahren. Dann, wenn das neue Kloster, das in der Umgebung entstehen soll, gebaut ist. Ein echtes Kloster soll das dann werden. Mit Kreuzgang, Klostergarten und einfacherem Rückzug in die Klausur. «Im Moment sind wir ein Pfarrerklub», sagt der Prior und hilft sich mit rheinischem Optimismus über diesen nicht ganz mönchischen Umstand hinweg. Eine WG, die in einem alten Pfarrgebäude residiert, das sich nur wenige Meter von der Kirche entfernt befindet.

Die Aufgabe tragen: Pater Simeon, mit 53 Jahren der älteste Mönch in Neuzelle, und Pater Kilian tun dies für die Gemeinschaft – und damit gerade auch für die jungen Mönche. Anders als in Heiligenkreuz, das aufgrund von Grösse und Ort schon Kraft spendet, muss dies in Neuzelle anderes ersetzen. «Das Charisma der Zisterzienser besteht aus der tiefen Sehnsucht nach der Einheit», sagt der Prior. Die Einheit wird dort gelebt, wo die Zisterziensermönche sind, wie eben jetzt in Neuzelle. Wenn dies gelingt, dann kann sie Orientierung und Basis sein.

Für dieses Gelingen spielt die persönliche Biografie eine zentrale Rolle, die Wege ins Kloster, die Brüche, die Überwindungen. Sowohl Pater Kilian wie auch Pater Simeon waren bereits tief eingetaucht ins weltliche Leben, bevor sie hinter die Klostermauern zogen. Der evangelisch getaufte Christian Müller befand sich in seinem zweiten Studium, als er das «Kloster auf Zeit» in Heiligenkreuz ausprobierte. Der damals 30-Jährige tat dies eher aus Neugier und auf der Suche nach Orientierung als aus religiöser Überzeugung. Der entscheidende Moment, der sein Leben so grundlegend veränderte, geschah am 1. September 2006. Im Kreis von Hunderten von Jugendlichen, die Lieder sangen und Gemeinschaft lebten, erfuhr Christian Müller seine Gottesbegegnung. «Es war 20 Uhr 45», sagt er mit einem Lachen und noch heute mit Tränen des Glücks. Vertrauen, Gemeinschaft – und frei sein.

Frei sein ausgerechnet im Kloster? Mit all seinen Regeln, mit alldem Verzicht? Gerade dort, antwortet Pater Kilian. «Ein falsches Verständnis von Freiheit kann viel weniger frei sein», sagt der Pater. Und: «Das Kontraintuitive kann sehr fruchtbar sein.» Oder anders gesagt: Mauern, die befreien, Ordnung, die entlastet, Verzicht, der erleichtert. Das ist nicht immer so, gibt Pater Kilian zwar auch zu. «Es gibt ganz dunkle Stunden. Der Gehorsam kann sehr schwer sein. Aber es lohnt sich, das durchzuhalten und durchzutragen.» All das hat Christian Müller an jenem 1. September 2006 vielleicht noch nicht so genau gewusst, wie er es heute sagt. Aber er hat es geahnt. «Ich fuhr zurück nach Berlin, packte ein paar Sachen, und fünf Tage später war ich im Kloster.» Christian Müller wurde Novize und empfing den Ordensnamen Kilian, 2011 legte er die ewige Profess ab, die Ordensgelübde «usque ad mortem», bis zum Tod.

Der Blick als Mönch

Pater Simeon nennt das Datum seiner Gottesbegegnung so selbstverständlich wie seinen Geburtstag: 15. August 1998. Auch er ist damals bereits über dreissig, leidenschaftlicher Karnevalist aus Unkel am Mittelrhein, Musiker mit Freundin, die er liebt, und mit einem Leben, das er geniesst. Doch auch ihm, geboren als Karl Wester, fehlt etwas in diesem Leben, es gibt eine Leerstelle, die er füllen will. Wie Pater Kilian sucht er bei den Zisterziensern, findet sie in der «Schönheit der Reduktion», wie er heute sagt, und in der Liebe. «Nur die Liebe kann mich erfüllen», sagt Pater Simeon, «und das ist immer Gott.» Der Prior wirkt gefestigt, klar orientiert. «Das Schwache wurde geschaffen, um das Starke zu beschämen», sagt er. Es ist dieses Prisma, das seinen Blick als Mönch prägt und seinen Umgang mit den Menschen.

Pater Simeon schöpft seine Kraft aus der Stille. Die Vigilien am frühen Morgen, in der Seitenkapelle von St. Mariä Himmelfahrt, sind ein solcher Moment. Das Chorgebet als Stille. In sich hineinhören. Alles andere abwerfen. «Ich spüre, wenn etwas nicht stimmt», sagt der Prior. «Aber ich habe aufgehört, auf alles eine Antwort geben zu müssen.» Als die Nachtwache endet, gehen wir hinaus in die Kälte. Ein Besucher der Vigilien aus Neuzelle grüsst mit einem Kopfnicken und einem Lächeln. Gut hat er begonnen, dieser Tag.

Foto: Zisterzienserpriorat Neuzelle

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Kommentare:
  1. Date 07. Januar 2019
    Author Von:R. Kiefer

    Ein wunderbarer Artikel. Guter Journalismus. Man spürt, der Verfasser hat begriffen, um was es geht.


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